„Sommerhaus, später“ ist ein Erzählband von Judith Hermann. Das 1998 veröffentlichte Buch ist die erste literarische Publikation der deutschen Schriftstellerin, die 1970 im damaligen West-Teil Berlins geboren wurde. Der Erzählband besteht aus neun Erzählungen, die an verschiedenen teils fiktiven Orten in Berlin und Umgebung spielen. Die Inhalte der Erzählungen sind zwar jeweils ganz unterschiedlich, behandeln aber doch ein ähnliches Lebensgefühl bzw. eine ähnliche, schwierige Einstellung zum Leben. Die Protagonisten schauen dem Leben nur zu, haben Schwierigkeiten mit verbaler Kommunikation und dem Umgang mit ihren Mitmenschen … Hermann legte hier eine Sammlung von Kurzgeschichten vor, in denen Menschen auf das wahre Leben warten und doch Angst vor jeder Veränderung zeigen.
Inhaltsverzeichnis
Sommerhaus, später Zusammenfassung
Taxifahrer Stein ruft die Ich-Erzählerin an, um ihr von seinem neuen Sommerhaus zu erzählen, dass er ihr zeigen will. Auf der Fahrt zum Sommerhaus erinnert sich die Erzählerin an die vergangene Zeit ihrer Freundschaft: Stein war zeitweise Teil ihrer Clique, die sich die Zeit mit Drogenkonsum und Amüsement vertrieb, wohnte abwechselnd bei einem von ihnen und schlief mit jedem Mitglied der Clique. Doch er gehörte nie wirklich dazu, obwohl oder gerade weil er sich mehr als alle anderen darum bemühte … Die Erzählerin erinnert sich auch an zahlreiche gemeinsame Taxifahrten mit von Stein ausgewählter musikalischer Untermalung: Ween für Landstraßen, Bowie für Innenstädte, Bach für Alleen und Trans-AM exklusiv für die Autobahn. Die Erzählerin spürt wenig Interesse am Wiederanknüpfen des schon längere Zeit verlorenen Kontakts, das neue Sommerhaus erweist sich als ziemlich renovierungsbedürftig. Stein gibt ihr trotzdem die Schlüssel; er möchte dort in Zukunft mit der Erzählerin sein Leben verbringen, sie lässt dieses Ansinnen unbeantwortet.
Zurück in ihrer Wohnung, wird die Erzählerin fast täglich von Stein per Postkarte über den Stand der Renovierung informiert. Dabei schreibt er über die gemeinsamen Zukunft, fordert die Erzählerin jedoch nie wirklich auf, ins Sommerhaus einzuziehen. Die Erzählerin beantwortet auf seine Postkarten nicht und beschließt, auf eine ausdrückliche Aufforderung zum Einzug zu warten. Als sie stattdessen einen Brief von Stein mit einem Zeitungsartikel über das abgebrannte Sommerhaus erhält, legt sie diesen mit dem Gedanken „später“ achtlos zu den übrigen Karten.
Rote Korallen
In der Erzählung Rote Korallen schildert die Protagonistin einem Therapeuten, wie das Schicksal ihres roten Korallenarmbands mit ihrem eigenen Leben verwoben ist: Die Urgroßmutter der Ich-Erzählerin geht mit ihrem Mann zu Beginn des 19. Jahrhunderts von Berlin nach St. Petersburg. Dort baut der russische Ehemann der Urgroßmutter Öfen in der Taiga, leistet also Aufbauarbeit für das russische Volk und lässt seine junge Frau über Jahre allein und ohne Kenntnisse der russischen Sprache in ihrem dunklen, stillen Wohnzimmer sitzen. Die Urgroßmutter schafft sich kleine Ausbrüche aus der Isolation: Zahlreiche Geliebte, der von ihr am meisten Geschätzte schenkt ihr das roten Korallenarmband und tötet wenig später in einem Duell ihren russischen Ehemann.
Nachdem die Urgroßmutter der Erzählerin ein Kind von diesem Geliebten entbunden hatte, konnte sie ihrem „russischen Gefängnis“ endlich entkommen. Auf der Rückfahrt nach Berlin wird sie ihrem vom letzten und wohl auch einzigen platonischen Freund deutsch-russischer Herkunft begleitet. Als die Ich-Erzählerin die Beerdigung der Enkel dieses ergebenen russischen Begleiters ihrer Urgroßmutter besucht, lernt sie ihren eigenen Geliebten kennen, den Sohn dieses Paares. Mit diesem Urenkel des besten Freundes ihrer Urgroßmutter führt die Protagonistin seitdem eine enge, abgeschottete Beziehung in seinem Zimmer, das ihr „still wie die Oberfläche eines Sees“ erscheint.
Weil ihr Geliebter nichts von der Geschichte des roten Korallenarmbands und der Vergangenheit in St. Petersburg hören will, sucht sie den Therapeuten ihres Geliebten auf – gegen dessen Willen, um endlich die Geschichte (des roten Korallenarmbands) ihrer Urgroßmutter erzählen zu können. Während des Gesprächs mit dem Therapeuten verknüpft sich ihr eigenes Leben/Erleben mit dem Schicksal des roten Korallenarmband und dem Schicksal der Vorfahren. Sie wird sich der Ausweglosigkeit ihrer nicht wirklich existenten Beziehung zum – namen- und konturlos bleibenden – Geliebten bewusst, zerreisst im Zorn darüber das Korallenarmband und befreit sich so von beidem, ihrem grauen Geliebten, der ihr kalt und stumm wie ein toter Fisch erscheint, und dem roten Korallenarmband aus der Petersburger Vergangenheit.
Hurrikan (something farewell)
Nora und Christine aus Deutschland besuchen Noras Exfreund Kaspar auf Jamaika. Im neuen Heim des ausgewanderten Kaspar hält sich auch sein Drogen konsumierender Freund Cat einige Tage lang auf. Beide werden zu Spielfiguren in einem Gedankenspiel der gelangweilten Mädchen: Sie stellen sich ein Leben vor, in dem sie auf Jamaika wohnen und Mann und Kinder haben. Begleitet wird dieses Spiel-Szenario durch Hurrikan-Warnungen im Radio. Während dieses Wartens auf den Hurrikan versucht sich der verheiratete Vater Cat Christine anzunähern und Kaspar möchte wieder mit Nora zusammenkommen. So vergehen ein paar ruhige Tage, in denen nichts geschieht. Christine speist Cat am Vorabend der Abreise mit einem Kuss und ein paar leeren Versprechungen ab; ein Brief von Nora stellt klar, dass der Hurrikan an Jamaika vorüber gezogen ist.
Sonja
Ein Künstler (der Ich-Erzähler) lernt eine Frau kennen, die er als biegsam und überhaupt nicht schön beschreibt. Er trifft sich oft mit dieser Sonja – bis sie jeden Tag zu ihm in die Wohnung kommt, ihn bei seiner Arbeit beobachtet und dabei wenig redet. Der Erzähler hat während dieser ganzen Zeit eine Fernbeziehung zu einer anderen Frau. Als diese Verena den Erzähler besucht, treffen die beiden im Freibad auf Sonja. Sonja fordert den Erzähler nun auf, sich zwischen ihr und Verena zu entscheiden bzw. sich zu ihr zu bekennen; der Künstler sagt darauf nur, dass er sie weiterhin sehen wolle. So verbringen Sonja und der Ich-Erzähler den Sommer miteinander, in einer intensiven, aber rein platonischen Beziehung. Bis Sonja dem Erzähler droht, sich umzubringen, woraufhin er einwilligt, sie zu heiraten – irgendwann. Sonja verreist für einen Monat, der Erzähler erkennt seine Liebe zu ihr, hat aber auch Angst vor ihrer Rückkehr.
Er fährt deshalb zu Verena und macht ihr einen Heiratsantrag, den Verena annimmt. Das erzählt er Sonja, die ihn als Reaktion ihrer Wohnung verweist und nicht mehr auf seine Anrufe reagiert. Nach einigen Wochen hört der Erzähler, dass Sonja umgezogen ist; sie ist damit endgültig aus seinem Leben verschwunden.
Ende von Etwas
Hier hört ein anonymer Ich-Erzähler zu, wie Sophie in einem Café von den letzten Jahren ihrer Großmutter erzählt. Die alte, nahezu bettlägerige Frau lebt fast nur von Zigaretten und viel Schnaps, den die Großmutter immer findet, obwohl die Familie die Schnapsflaschen ständig versteckt. Im letzten Jahr vor ihrem Tod beginnt die Großmutter, alle Menschen um sie herum des Diebstahls zu verdächtigen. Sophie erinnert sich an weitere Geschichten und Anekdoten, die die Großmutter ihr erzählte; und an das Teelicht, das in den letzten Tagen der Großmutter unbedingt auf dem Nachttisch brennen musste. Sie berichtet weiter, wie ihr Vater eines Tages angerufen wird, am Ende der Leitung nur Knacken und Prasseln hört und daraufhin die Wohnung der Großmutter aufsucht. Dort steht die Großmutter in der Mitte des Zimmers, tanzend und in Flammen. Der unbenannte Ich-Erzähler sagt auch dazu kein Wort, sondern bleibt während der gesamten Erzählung von Sophie stummes, unbeteiligtes und undefiniertes Publikum.
Bali-Frau
Zu Beginn konsumiert die Ich-Erzählerin zusammen mit ihrer Freundin Christiane und einer weiteren Figur namens Markus Werner Drogen. Geplant ist der Besuch des Premierenfests eines verheirateten Regisseurs, in den Christiane verliebt ist. Die Erzählerin überlegt zunächst, ob sie sie lieber eine unbekannte, von ihr mit „Du“ angesprochene Person besucht, entscheidet sich aber dann doch, mit auf das Premierenfest zu gehen. Auf diesem Fest versucht Christiane, den Regisseur durch Tanz zu verführen. Sie erreicht aber nur, dass sich eine andere Frau tanzend zu ihr gesellt, deren rotes Kleid beim Drehen den nackten Hintern und die Scham sehen lässt und deren Tanz der Erzählerin ganz anders erscheint als Christianes Tanz. Diese Tänzerin erweist sich als die aus Bali stammende Ehefrau des Regisseurs. Diese lässt Christianes Initiative zu, dass die drei Freunde sie mit dem Taxi in ihre Wohnung begleiten, wo die vier die restliche Nacht in der Küche feiern, während der Regisseur im Nebenzimmer schläft. Weil die unerwartete Intimität in der Wohnung von Regisseur und Frau Christiane schließlich unangenehm wird, verlassen Christiane und die Ich-Erzählerin die kleine Gesellschaft gegen Morgen. Markus Werner ist inzwischen auf der Essbank eingeschlafen, er wird von der Frau des Regisseurs zugedeckt.
Hunter-Tompson-Musik
Hunter Tompson wohnt in einem recht schäbigen Hotel, hört gerne klassische Musik, ist alt und wird als einsam dargestellt. Nach dem Tod des Bewohners vom Zimmer gegenüber zieht dort ein junges Mädchen ein, das in Tompsons eingefahrenen Tagesablauf einbricht. Sie nimmt Kontakt mit Tompsons auf und lädt ihn zum Essen ein. Als dieser vom Diebstahl ihres Kassettenrekorders hört, kauft er ihr einen neuen, auch von Übergabe alter Tonbandaufnahmen Tompsons wird gesprochen. Tompson sieht der persönlichen Übergabe des Geschenks aufgeregt entgegen, bereitet sich lange vor und zieht einen Anzug an; das Mädchen erscheint nicht zur vereinbarten Zeit. Als sie viel später unter Entschuldigungen an seiner Tür klopft, schiebt Tompson ihr ohne Antwort einen Schuhkarton mit den begehrten Dingen entgegen und schließt dann die Tür wieder. Das Mädchen beginnt zu weinen, Tompson verweigert ihr in Folge weiter das Gespräch. Nur eine einzige Frage ist er noch bereit zu beantworten: Er wohne im Hotel, weil er so fortgehen könne, wann immer er wolle. Als das Mädchen fragt, wohin er denn fortgehen wolle, hält Tompson diese für ihn irrelevante Frage keiner Antwort mehr für würdig …
Camera Obscura
Die Geschichte erzählt von Marie, die sich einem Künstler an den Hals schmeißt, den sie nicht begehrt und nicht attraktiv findet und der ihr gerade bis zur Schulter reicht. Was sie von diesem Menschen will, weiß Marie nicht so genau; als er ihr nach mehreren Treffen seine Liebe gesteht, kommt von Marie nur ein „Ja“. Sie hält den Künstler nicht für authentisch, er könne nicht lächeln und erinnert sie sogar an ein unheimliches Äffchen. Und doch fährt Marie mit in seine Wohnung, lässt zu, dass er sie küsst und auszieht und den Sexualakt mit ihr vollzieht, während dem sie vom „schwarzglänzenden Auge“ der Webcam gefilmt wird und das Ganze auf dem Computerbildschirm betrachten kann.
Diesseits der Oder
erzählt eine Episode aus dem Leben von Koberling, der mit Frau Constanze und Sohn Max in einem abseits gelegenen Haus in Oder-Nähe wohnt. Koberling bekommt Besuch von der Tochter eines ehemaligen Freundes und deren Drogen konsumierenden Freund und fühlt sich schnell in seinem Alltag gestört. Sehnsüchtig denkt er an die Zeit, als diese Anna noch ein stilles Kind war und wünscht sich seinen ruhigen, geordneten Tagesablauf ohne Überraschungen zurück.
Während sich seine über den Besuch erfreute Frau mit den Gästen unterhält, geht Koberling schlafen – und empfindet es als unverschämten Eingriff in die Privatsphäre, als Anna am nächsten Morgen in seinem Schlafzimmer steht und Koberling bittet, ihr das Oderbruch zu zeigen. Noch beim Aufwachen denkt er zurück an die Zeit, in der er seine Frau Constanze kennen gelernt hat, „einen Schutz und eine Resignation“; während des Rundgangs mit Anna fühlt sich Koberling in der Anwesenheit der anderen Person unwohl und von der Entfernung zum „sicheren“ Haus überfordert. Als Anna ihn fragt, warum er keinen Kontakt mehr zu ihrem Vater hat, weiß er keinen speziellen Anlass; abends wünscht er sich von Constanze, dass sich Max später nicht so benehme wie Anna. Wie gut, dass Anna und Tom bereits wieder abgefahren sind, als Koberling am nächsten Morgen erwacht …
Zusammenfassende Betrachtung der Erzählungen
In jeder der Erzählungen Hermanns kämpft der Protagonist mit anderen Schwierigkeiten eines doch eigentlich ganz normalen Lebens. Die Erzählerin in „Rote Korallen“ sucht ihre Identität und Befreiung aus einer Beziehung, die diesen Namen nicht verdient; in „Hurrikan“ können weder Aktionen der Figuren noch drohende Stürme irgendwelche Änderungen im Leben der ProtagonistInnen bewirken. „Sonja“ behandelt die alltägliche Liebe zwischen „nah“ und „fern“, das „Ende von Etwas“ thematisiert Alter und Tod in Abwesenheit der Familie und das namenlose Entsetzen darüber. „Hunter Tompson“ verträgt es überhaupt nicht mehr, wenn Alltag und/oder Musik durcheinander geraten. Stein möchte so sehr dazugehören, dass er Gleichgültigkeit bis zum bitteren Ende ausblendet – und die Erzählerin dieser Geschichte blendet offensichtlich alles aus. Marie ist entfernt von jeder Beziehung und von jedem eigenen Körperempfinden; in Koberlings festgefahrenem Alltag verursachen jede Regung und jede Kommunikation Panik. In jeder der Erzählungen Hermanns werden noch viele weitere Gefühle samt daraus resultierendem, nicht immer nutzbringendem Verhalten thematisiert; in zurückhaltender, nicht nach Effekten heischender Ausdrucksweise, aber mit zahlreichen Anspielungen und Symbolen.
Judith Hermann schildert in diesen Erzählungen Erfahrungen und Beobachtungen aus ihrem Lebensumfeld: Der bunten Mischung aus Studenten und anderen „Reisenden“, Künstlern und irgendwie oder auch nicht Arbeitenden, die in den 1990er Jahren im frisch wiedervereinten Berlin ihr Leben zu gestalten versuchten. Diese Generation hat die theoretisch bereits wiedergeborene Hauptstadt geformt und zu einem höchst spannenden und lebenswerten Ort gemacht, musste dabei aber auch mit Mengen weniger spannender Ratlosigkeit kämpfen. Nach Meinung von Kritikern und Aussage von Beteiligten ist es Hermann in ihrem Erzählband hervorragend gelungen, das gespaltene Lebensgefühl ihrer Generation einzufangen.
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